Die Natur braucht Rechte – juristischem Fortschritt statt ökonomischer Logik vertrauen

Autorin: Christine Ax, Lesezeit: 4 Minuten

Das bahnbrechende Urteil vom 02.08.2024 am Landgericht Erfurt, in dem die Rechte der Natur erstmals in Deutschland anerkannt wurden, hat eine lebhafte Diskussion unter Expert*innen und in den Medien ausgelöst. Während sich die FAZ-Rechtsexpertin Dr. Katja Gelinsky am 27. August im Artikel „Die Natur braucht keine Rechte“ nicht zum ersten Mal skeptisch bis ablehnend zu den Rechten der Natur (Rights of Nature, RoN) äußert, verkennt sie die fundamentale Bedeutung der Anerkennung der Natur als Rechtssubjekt. Gelinsky argumentiert unter anderem, dass die Zuweisung von Eigenrechten an „ökologische Personen“ wie Meere, Wälder und Tiere im Rechtsweg an ihre Grenzen stößt, da diese nicht selbst vor Gericht ziehen können. Statt echte Lösungen für Umweltprobleme zu bieten, verlagert die Anerkennung der Rechte der Natur laut Gelinsky lediglich die Verantwortung. Diese Maßnahmen führen, so die Kritik, nicht zur angestrebten Gleichheit zwischen Nutzung und Schutz der Natur, da letztlich der Mensch nur mit sich selbst verhandelt. Dr. jur. Peter Mohr, Vorstand des Netzwerks Rechte der Natur, äußert sich in einem Leserbrief an die FAZ wie folgt: „An die Stelle der leider häufigen ‚Wegwägung‘ des Schutzes der Natur soll mit den Rechten der Natur eine angemessene Abwägung bei Zielkonflikten ermöglicht werden. Es ist wahrlich nichts Neues, wenn die Rechte der Natur von Menschen wahrgenommen werden müssen, solange die Natur nicht ‚mit uns spricht‘ – das ist vielmehr ein alter Hut. Auch juristische Personen, wie Verbände, Vereine oder Unternehmen, werden seit Jahrhunderten von Menschen vertreten.“

Immerhin stellt Gelinsky fest, dass die Forderung nach Rechten der Natur den Nerv der Zeit trifft. Angesichts der Risiken durch Klimawandel, Umweltverschmutzung und Verlust der Artenvielfalt drängt sich die Frage auf, ob das Grundgesetz als „Grundversicherung“ noch ausreicht. Sie betont, dass die Hälfte unseres Wohlstandes von der Natur und ihren Leistungen abhängt. Ihr Lösungsvorschlag lautet, den Wert der Natur in die Preisbildung zu integrieren – für eine echte Wertschätzung – anstatt die Verantwortung abzuschieben. Jedoch weiterhin ausschließlich ökonomische Logik walten zu lassen, wäre nichts weiter als das Verharren im bestehenden System, das bereits versagt hat, die drängenden Krisen angemessen zu bewältigen. Die Anerkennung von Rechten für die Natur bietet die Chance, über vorwiegend marktorientierte Ansätze hinauszugehen und wie das Erfurter Urteil es vermag, „Waffengleichheit“ herzustellen, sodass die Interessen der Natur ebenso gewichtet werden wie die Interessen menschlicher Akteure oder Unternehmen.

Gelinsky hofft in ihrem Kommentar, dass das Erfurter Urteil „nicht Schule macht.“ Andere Rechtsexpert*innen hingegen begrüßen den Urteilsspruch von Erfurt und halten ihn für einen mutigen und wichtigen ersten Schritt, der die Weiterentwicklung unseres Rechts vorantreibt, auch wenn das Urteil noch viele Fragen aufwerfe.

Dr. jur. Peter Mohr, Vorstand im Netzwerk Rechte der Natur hält das Urteil für sehr bedeutsam: „Es ist eine richterlich zulässige rechtsschöpferische Rechtsfortbildung und bejaht eine der Grundfragen nach den Rechten der Natur und nach den Eigenrechten der Natur. Aber es lässt die Frage nach der Würde der Natur offen.“  

Dr. Reinald Eichholz, Autor des Buches „Menschenwürde und die Rechte der Natur“stellt fest: „Das Urteil bestätigt sehr schön, dass die Rechtsprechung eher ein Partner der Rechte-der-Natur-Bewegung sein kann als die Parlamente.“

Die Rechtsplattform LTO – die das Urteil in ihrem Podcast und in einem Artikel vorstellt und diskutiert – anerkennt den Sinn einer solchen Weiterentwicklung des Rechtes. Zumal die vorhandenen Rechtsinstrumente bisher NICHT in der Lage waren, der Natur den Schutz zu gewähren, der erforderlich ist. Bisher sei Umweltschutz zwar ein anerkanntes Staatsziel, könne aber aktuell nicht eingeklagt werden. Die Rechte der Natur hätten das Potenzial der Naturzerstörung Einhalt zu gebieten. Das Urteil in Erfurt sei der erste Schritt in diese Richtung.

Einigkeit herrschte im Kreis der Rechtsexpert*innen bei einem Netzwerktreffen des Netzwerkes Rechte der Natur, dass das Urteil nur ein Anfang sein könne und noch viele Fragen offenbleiben. So wurde beispielsweise die Frage aufgeworfen, ob die Anerkennung der Rechte der Natur in diesem Urteil Konsequenzen für die Schadenersatzhöhe hat. Auch wurde angemerkt, dass das Urteil nicht auf die Frage nach der Würde der Natur eingeht. Die Grundgesetzinitiative des Netzwerkes Rechte der Natur hatte den Vorschlag gemacht, den Artikel 1 unseres Grundgesetzes, um die Würde der Natur zu ergänzen. Deren Anerkennung in der Verfassung, so Dr. Reinald Eichholz, habe den Vorteil, dass der Eigenwert der Natur nicht erst auf dem Klageweg über viele Instanzen und Einzelfälle hinweg in jedem Einzelfall geklärt werden müsse. Dr. jur. Bernd Söhnlein, Autor des Buches im Oktober erscheinenden Buches „Die Natur im Recht“ geht davon aus, dass der Bezug des Urteils auf die Grundrechtecharta sowie der EU-Bezug durchaus interessant ist und wichtige Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung des deutschen Rechtes bietet. Franziska Albrecht von Green Legal Impact hält das Urteil für einen wichtigen Fortschritt. Allein die Tatsache, dass damit die Diskussion in Jurist*innenkreisen deutlich vorangebracht wird, hält sie für einen großen Erfolg. Dass das Urteil wichtig ist und einen Schritt in die richtige Richtung darstellt, war auch die Einschätzung von Dr. jur. Andreas Gutmann und Jenny Garcia Rurales, die dies in ihrem Blogbeitrag am 18. Juni darlegten. Sie weisen darauf hin, dass die Möglichkeit den Personenstatus der Natur aus der EU-Grundrechtscharta abzuleiten auch von Prof. Fischer-Lescano in seinem sehr wichtigen Aufsatz „Natur als Rechtsperson – Konstellationen der Stellvertretung im Recht“ ausführlich begründet wurde.

Resumée: Das Urteil von Erfurt schreibt Rechtsgeschichte

Es ist das erste Mal, dass ein Richter die RdN für „gegeben“ hält. Ein Urteil, das aus mehreren Gründen von großer Bedeutung ist. Einerseits wurde es von dem anerkannten Experten der EU-Grundrechtscharta, Dr. Martin Borowsky, gefällt und ausführlich – auch wissenschaftlich – begründet. Die Gründe, mit denen das Urteil die „Rechtsperson Natur“ als juristisch gegeben darlegt, wird von weiteren anerkannten (z. B. Prof. Fischer-Lescano) Experten geteilt. Und es ist eine Antwort auf ein Problem, dessen Bedeutung nicht größer sein könnte und in dem das Recht bisher versagt hat. Dies wird auch von Kritiker*innen in keiner Weise abgestritten. Es ist ein Urteil, auf das jeder, der sich im Unionsrecht bewegt, berufen kann und sollte.  Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde – um es mit den Worten von Dr. Andreas Gutmann zu sagen – in einer unscheinbaren Verhandlung eines Erfurter ‚Dieselfalls‘ ein juristischer Samen gesetzt, der Früchte tragen wird. Die Rechte der Natur stehen der gesellschaftlichen Anerkennung der überragenden Bedeutung der Natur für unseren Wohlstand keineswegs entgegen. Allerdings werden die „ökonomischen Instrumente“ schon seit Anfang der 80er Jahre gefordert – ohne erkennbaren Erfolg.

Hintergrund: Das Urteil des Landgerichts Erfurt

Das Landgericht Erfurt erkennt die Rechte der Natur am 02. August 2024 in dem Urteil mit der Nummer (Az. 8 O 1373/21) an. Die juristische Argumentation des Gerichts ist dabei spannend: Die Rechte der Natur werden aus der EU-Grundrechtecharta abgeleitet, insbesondere aus dem Recht auf Leben (Art. 2) und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 3), verbunden mit Art. 37, der ein hohes Umweltschutzniveau in die EU-Politik integriert. Demnach sind die Grundrechte „ihrem Wesen nach“ auch auf die Natur und ihre Ökosysteme anwendbar. Das LG Erfurt Gericht interpretiert den Begriff „Person“ in der EU-Grundrechtecharta weitreichend, sodass er nicht nur auf Menschen, sondern auch auf natürliche Entitäten wie Flüsse oder Wälder angewendet werden kann – als ökologische Person. Verschiedene Sprachfassungen der Charta, etwa das französische „personne“ oder das englische „everyone“, unterstützen diese erweiterte Deutung.

Informationen zum Urteil

Das Urteil des LG Erfurt hat das Aktenzeichen: 8 O 1373/21.

Links: https://openjur.de/u/2492578.html und https://landesrecht.thueringen.de/bsth/document/NJRE001582361

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Fotokredit: sharkolot auf Pixabay

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