Jens Kersten: Rechtssubjektivität der Natur ist eine notwendige Antwort auf das Anthropozän
Rechte sind der Schlüssel zur modernen Gesellschaft
Artikel 20 a des Grundgesetzes leistet nur wenig zum Umweltschutz
Ausgangspunkt der Analyse von Jens Kersten ist das Anthropozän. Das Zeitalter, in dem der Mensch selber zur Naturgewalt geworden ist. Mit verheerenden Folgen: Klimawandel, Artensterben und Vermüllung der Biosphäre. Bisher ist die Natur, so Kersten, in unserem Rechtssystem ein schützenswertes Objekt, ohne eigene Rechte. Das Staatsziel Umweltschutz (Arktikel 20a Grundgesetz) ändert daran nichts. Denn die Tiere, der Boden und Wasser, Landschaft und Ökosysteme, Luft und Klima sind nur objektiv-rechtlich geschützt. Weder die Natur noch der Mensch können daraus subjektive Rechte ableiten. Selbst dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes Andreas Voßkuhle ist nicht von der Wirksamkeit der bisherigen Rechtslage überzeugt. Kersten zitiert ihn wie folgt: "Welchen Beitrag leistet das Grundgesetz zum Umweltschutz? Nüchtern ist festzuhalten: Der Befund ist eher mager."
Naturzerstörung ist längst realisiert
Die Prinzipien Risikogesellschaft und Nachhaltigkeit haben sich, so Kerstens, nicht bewährt: "Wir nehmen ganz handfeste Gefahren und bereits eingetretene Störungen wie das Artensterben und den Klimawandel, die globale Vermüllung und die atomare Verseuchung nur als Risiken war, also als Ereignisse, deren Eintritt nicht wahrscheinlich, aber auch nicht vollkommen ausgeschlossen ist. Dies ist jedoch eine Fehlwahrnehmung: wir leben nicht in einer Welt-Risikogesellschaft, sondern in einer globalen Gefahrengemeinschaft, in der sich die Naturzerstörung längst realisiert (hat). Über das progressive Artensterben, den dynamischen Klimawandel, die Vermüllung des Landes und der Meere sowie den Umgang mit Atommüll lässt sich schlicht nichts nachhaltiges sagen." Und weiter: "In diesem - wie in vielen weiteren - Bereichen haben wir längst den Punkt verpasst, an dem das letztlich konservative Nachhaltigkeitsprinzip noch hätte greifen können."
Natur kann Rechtssubjekt sein - auch wenn sie nicht aktiv selber klagen kann
Kersten geht ausführlich auf die Bedeutung von Eigenrechten in unserem Rechtssystem ein und legt dar, warum die Rechts-Subjektivität der Natur möglich ist: "Einer Rechtsordnung steht es grundsätzlich frei, wen oder was sie als Rechtssubjekt anerkennt". Und warum sie notwendig ist: "Rechts-Subjektivität ist die aktive Rolle, die eine Person in einem Rechtssystem spielen kann: Es handelt sich um einen Rechtsstatus der es einer Person erlaubt als Subjekt am Rechtsverkehr teilzunehmen, Träger von rechten und Adressat verpflichten zu sein, vor Gericht klagen zu können, aber auch verklagt zu werden." Und dass dieser Status keineswegs davon abhängig ist, ob ein Rechtssubjekt diese aktiven Rolle selber übernehmen kann.
Erst wenn die Natur Rechte hat, ist Waffengleichheit hergestellt
Die Verteilung von Rechts-Subjektivität durch das Grundgesetz hält Kersten für "nicht mehr zeitgemäß". Und der aktuelle Schutzstatus. Denn der Schutz bleibe bisher hinter den rechtlichen Möglichkeiten zurück, die sich der Natur eröffnen würden, wenn sie ihre ökologischen Interessen als Rechtssubjekt selbst durchsetzen könnte. Doch während soziale und ökonomische Interessen von Rechtssubjekten selbst verfolgt werden können, werden ökologische Interessen nur objektiv - rechtlich geschützt. Erst wenn auch die Natur über Rechtssubjektivität verfüge und ihre ökologischen Interessen selber durchsetzen könne, sei juristisch Waffengleichheit hergestellt, die dem Gebot der Fairness genüge.
Grundgesetz ist kein Hindernis
Kersten führt weiter aus, dass der Gesetzgeber durch Artikel 20 A Grundgesetz nicht daran gehindert wird, der Natur zum Beispiel im Naturschutzgesetz oder den Tieren beispielsweise im Tierschutzgesetz Rechtssubjektivität zu verleihen.
Rechtssubjektivität der Natur: Konkrete Möglichkeiten der Umsetzung
Auf dieser Grundlage könne der Gesetzgeber die Rechte der Natur beziehungsweise der Tiere auf Integrität und Selbstentfaltung weiter ausdifferenzieren. Dies wäre ein praktisch unmittelbar gangbarer Weg, der allerdings nicht auf der verfassungsrechtlichen, sondern auf der einfachgesetzlichen Ebene die Rechtssubjektivität der Natur entfalten würde.
Der zweite Weg, den der Autor für machbar hält, stelle die Natur den juristischen Personen gleich. Ganz in diesem Sinn habe der Rechtswissenschaftler Andreas Fischer-Lescano vorgeschlagen, dass sich die in Artikel 20 A Grundgesetz verfassungsrechtlich anerkannten natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere nach Artikel 19 Absatz 3 Grundgesetz wie juristische Personen auf die Grundrechte berufen könnten, die wesensmäßig auf sie anwendbar sind.
Die Anerkennung der Rechtssubjektivität der Natur durch Verfassungsauslegung hält er also für möglich und dem Gesetzgeber stünden eine ganze Reihe von Regelungsmöglichkeiten zur Verfügung. Erstens könnte der verfassungsändernde Gesetzgeber nachfolgende Regelung in das Grundgesetz aufnehmen, die die Rechte der Natur ausdrücklich anerkennt. ""Die Rechte der Natur sind zu achten und zu schützen." Dabei könnte die Begründung dieser Grundgesetzänderung festhalten, dass der Begriff Natur weit zu verstehen ist und deshalb Tiere, Pflanzen und Umwelt Medien umfasst.
Er weist darauf hin, dass der Artikel 39 Absatz 3 des brandenburgischen Verfassung noch einen Schritt weiter geht. Er legt fest: "Tiere und Pflanzen werden als Lebewesen geachtet. Art und artgerechter Lebensraum sind zu erhalten und zu schützen." Diese Formulierung habe den Vorteil, dass das Grundgesetz mit der Verwendung des Begriffes "Achtung" im Zusammenhang mit Rechten in der Regel eine subjektiv-rechtliche Rechtsposition anerkenne. Ein Beispiel hierfür sei die Menschenwürdegarantie.
Grundrechte auch für die Natur
Zweitens könne der verfassungsändernde Gesetzgeber aber auch folgende an Artikel 19 Absatz 3 Grundgesetz orientierte Regelung in das Grundgesetz aufnehmen: "Die Grundrechte gelten auch für die Natur, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind". Auch in diesem Fall wäre es wichtig, dass in der Begründung der Verfassungsänderung klar gestellt würde, dass der Begriff der Natur weit zu verstehen ist und damit Tiere Pflanzen und Umwelt Medien umfasst. Dieser zweite Regelungsvorschlag würde sehr viel weiter als die oben genannte erste Regelungsalternative gehen.
Recht sind der Schlüssel zur modernen Gesellschaft
Kerstens stellt am Ende zusammenfassend fest: "Rechte sind der Schlüssel zur modernen Gesellschaft. Deshalb liegt die Antwort auf die ökologischen Herausforderungen des Artensterbens, der Globalvermüllung und des Klimawandels nicht in einer Kritik der Rechte sondern in einer verfassungsmäßig verankerten Anerkennung der Rechte der Natur - als Ausdruck eines neuen ökologischen Liberalismus im Anthropozän.
Auch wenn dies nicht in jedem Einzelfall bedeute, dass die Natur mit ihren Anliegen vor Gericht ob siegen würde. Denn auch unter diesen Rahmenbedingungen wäre im Einzelfall eine Abwägung zwischen den Rechten und Interessen des Menschen gegenüber den Ansprüchen und Erfordernissen des Naturschutzes erforderlich.