Ein Manifest für Tiere.
Die Sache der Tiere ist von historischer Bedeutung
I
Ihr schmales, nur 125 Seiten umfassendes Büchlein, ist in drei Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel analysiert sie die Belange der Tiere. Im zweiten Teil geht es ihr darum, wie die notwendige Politisierung der Tierfrage aussehen kann. Im dritten und letzten Teil macht sie Vorschläge zur Gestaltung des Übergangs in das „Zeitalter der Lebewesen“.
Pelluchons Analyse der Gegenwart ist gnadenlos. Unser Umgang mit Tieren ist ein Krieg gegen uns selbst. Wir üben extreme Gewalt gegen Lebewesen aus, die wir nicht sehen wollen. Die Hölle, die wir Tieren zumuten belegt das Ausmaß des Bösen, zu dem wir fähig sind. Unsere Verachtung gegenüber Lebewesen zeugt von unserer Verachtung gegenüber dem Leben. Und unser Verhältnis zu Tieren spiegelt unser gewaltvolles Verhältnis zu anderen Menschen wider. Sie kritisiert das Recht Einzelner alles zu verbrauchen und zu missbrauchen. Sie beschreibt das Gesicht einer Menschheit „die ihre Seele zu verlieren droht“ (S 11).
Ein neues Zeitalter des Respekts vor allem Lebenden
Ursache für diese Verhältnisse ist für sie nicht die menschliche Natur. Es sind die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die aus Menschen solche Monstern machen. Die meisten BürgerInnen seien keine Feinde der Tiere, sondern Menschen, die ihr moralisches und ihr psychisches Leben trennen (S 15). Aus Kindern, die den Anblick des Tierleids nicht ertragen werden Erwachsene gemacht, deren Schweiß, Blut und Wahlzettel im Dienst eines gnadenlosen Systems stehen, das – wie schon die Sklaverei - nur für eine Minderheit profitabel ist. (S 16).
Pelluchon fordert die Überwindung eines Anthropzentrismus, für den Erde, Himmel und alle Lebewesen einen rein instrumentellen Wert haben (S. 27). Sie fordert in das Zeitalter des Respektes vor allem Lebenden einzutreten.
Triebkräfte der Geschichte
Doch wie kann dies gelingen, wenn die wirklichen Triebkräfte der Geschichte noch nie wissenschaftliche Erkenntnisse oder rationale Erwägungen waren? Die Befreiung der Tiere, die „auch unsere Befreiung sein wird“ erfordert es ihrer Ansicht nach die Tierfrage zu politisieren und Regeln aufzustellen, die die Interessen der Menschen und der nichtmenschlichen Lebewesen wirklich ernst nehmen.
Die Autorin orientiert sich dabei immer wieder am Kampf gegen die Sklaverei (S 32). Die vielen Jahrhunderte, in denen Frauen, Kinder und Männer wie Tiere auf Märkten verkauft und versklavt worden und völlig rechtlos waren, hatten zur Folge, dass selbst die Sklaven an einen naturgegebenen Unterschied glaubten und diese Verhältnisse zwar für grausam aber keineswegs für ungerecht hielten. Erst die öffentliche Anerkennung, dass „alle Menschen frei und mit gleichen Rechten und Würde geboren sind“ veränderte ihr Denken.
Die Bedeutung subjektiver Rechte
„Die subjektiven Rechte, die jedem Menschen Würde und einen Eigenwert zusprechen und Freiheit wie auch Gleichheit zur Grundlage des Naturrechts machen, dienen heute als Maßstab für die Legitimität der positiven oder bestehenden Gesetze. Sie zeugen von einem moralischen Fortschritt, der von der Ausdehnung unserer moralischen Erwägungen auf alle Menschen gekennzeichnet ist, unabhängig von ihrer Rasse, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Funktion oder ihrem Geschlecht.“ (S 33). Doch so sinnstiftend und notwendig die Anerkennung der individuellen Freiheitsrechte ihrer Ansicht nach waren, so wichtig und notwendig ist heute der Übergang in ein „Zeitalter der Lebewesen“. Denn die Art und Weise, wie diese Freiheiten gelebt werden, wenden sich immer mehr gegen das Leben selbst und die Würde des Menschen.
Nihilismus der Gegenwart
Pelluchon Gegenwartskritik ist radikal. Sie beklagt die Entsubjektivierung, die Erfahrung von Ohnmacht und des Selbstverlust, die Gewalt gegen Tiere und alle die sich nicht wehren können. Dies alles sei Ausdruck eines vollständigen, hemmungslosen Mangels an Achtung vor dem Leben. Sie hält charakterisiert diese Entwicklungen als eine neue Form des Nihilismus. Als Wunsch, die gegenwärtige Welt und ihre Potenziale zu zerstören, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, was man an deren Stelle setzen möchte.“ (S 45).
Tiere und Natur rücken in den Kernbereich der Ethik
Doch diese Entwicklung ist ihrer Ansicht nach an ihr notwendiges Ende gelangt. Unsere Körperlichkeit, unsere Verletzlichkeit und unsere Stellung als gezeugte Lebenswesen, unser Bedürfnis nach Luft, Wasser, Nahrung und Raum machen unsere Abhängigkeit von der Natur deutlich uns sorgen notwendiger Weise dafür, dass alle Lebewesen in den Kernbereich der Ethik und Gerechtigkeit rücken. (S 47).
Ein neues Zeitalter der Lebewesen
Für das „Zeitalter der Lebewesen“ fordert Pelluchon ein neues Denken: „Diese Verbindung von Anthropologie und Politik öffnet den Weg zu einem Programm, das es möglich macht, die Regeln einer gerechten Koexistenz zwischen Menschen und Tieren zu definieren, die sowohl auf kurze als auch auf lange Sicht unsere Zukunft darstellt. Denn hinter dieser Entwicklung steht eine Philosophie des Subjekts, die mit einem neuen Verständnis des Menschen verbunden ist (S 47).
Mensch und Tier leben in gemischten Gemeinschaften
Im Kapitel „Die Politisierung der Tierfrage“ begründet sie die Forderung nach „Gerechtigkeit“ gegenüber Tieren. Unser Verhältnis zu Tieren zeugt, so Pelluchon, von der Ungerechtigkeit unseres Rechts. Da Mensch und Tier in einer gemischten Gemeinschaft leben und Tiere ein Lebensrecht haben, muss der gemeinsame Raum gerecht geteilt werden. Politik ist so gesehen immer auch Zoopolitik.
Tiere sind politische Subjekte – auch wenn sie nicht sprechen können
Auch wenn Tiere keine politischen VertreterInnen wählen könnten, sind sie für Pelluchon politische Subjekte, die Interessen und individuelle Präferenzen haben und mitteilen können. Am Beispiel der rechtlichen Vertretung bedingt handlungsfähiger Menschen (Kinder, Demenz, Krankheit etc.) erläutert sie, wie Rechte der Tiere gewahrt werden können und stellt außerdem klar: „Die Rechte der Tiere sind wie der Wert, den wir der Natur zuschreiben, durchaus nicht anthropozentrisch oder abhängig von der menschlichen Sicht, auch wenn sie anthropogen sind, weil sie von Menschen entdeckt und formuliert werden.“ (S 56).
Zoopolis, definiert als eine aus Menschen und nichtmenschlichen Lebewesen bestehende Gemeinschaft, erfordert, dass die Tierfrage zum Bestandteil legitimer demokratischer Prozesse wird. Tierschützer und Animalisten müssten daher beim Kampf um Mehrheiten die demokratischen Spielregeln einhalten.
Die Lösung der Tierfrage braucht neue politische Institutionen
Für Pelluchon steht fest, dass die Lösung der Tierfrage wie alle anderen Prinzipien der Gerechtigkeit auch, neue politische Institutionen und den Zwang der Gesetze erfordert. Sie plädiert für einen neuen Gesellschaftsvertrag, der die Prinzipien der Gerechtigkeit gegenüber Tieren regelt. Die Wahrung der Interessen der Tiere soll von auf Zeit gewählten Experten gewährleistet werden, die bei allen Beratungen, Gesetzgebungs- und Entscheidungsprozesse ein Vetorecht haben. Diese Experten sollen per Losentscheid auf Zeit gefunden werden, um Korruption und Ermüdung zu vermeiden.
Der Beitrag von Kunst, Kultur und Bildung
Und last but not least, sollte die Frage der Tiere in den öffentlichen Diskursen, in Kultur, Bildung und Kunst ein großes Gewicht erhalten. Ihr schwebt eine umfassende kulturelle, philosophische und künstlerische Bewegung vor, die die Bedeutung und Universalität der Sache der Tiere deutlich macht.
Animalismus kämpft gegen jedwede Diskriminierung und Ausbeutung
Dem Animalismus bescheinigt sie, dass es seinen Anhängern nicht nur um das Ende der Ausbeutung von Tieren geht, sondern auch um ein Ende jedweder Diskriminierung, Ausbeutung und Gewalt. Sie wüssten, dass die Aufnahme der Tiere in Ethik und Recht auch eine Erneuerung des Humanismus bedeute.
Bevor sie im letzten Kapitel auf ganz konkrete Maßnahmen zu sprechen kommt, erinnert sie an das Vorgehen Abraham Lincolns bei der Abschaffung der Sklaverei. Dieser habe die Abschaffung der Sklaverei nicht von einem Tag auf den nächsten gefordert. Sein Plan sah sowohl längere Übergangsfristen als auch Ausgleichzahlungen für die Sklavenbesitzer vor. Erst wurde die Sklaverei in den konföderierten Südstaaten verboten und später dann im ganzen Land.
Der Kampf für die Rechte der Tiere muss die demokratischen Spielregeln einhalten und mit Tierzüchtern zusammenarbeiten
Die Durchsetzung der abolitionistischen Forderung jedwede Tierzüchtung zu verbieten, erfordere die Zusammenarbeit mit den Tierzüchtern. Man dürfe diese nicht als Feinde betrachten. Tierzüchter stünden unter dem Druck eines Systems, das sie häufig zwinge, Tiere zu misshandeln, um überleben zu können. (S 75). Kurzfristig müssten die Lebensbedingungen der Tiere verbessert werden. Langfristig sei das Ende jeder Ausbeutung von Tieren das Ziel.
Kurz- und langfristige Strategien wählen
Kurzfristig und an erster Stelle, möchte Pelluchon alle Praktiken, die Tieren großes und unnötiges Leid zufügen beenden. Dazu gehören, die Gefangenschaft von Wildtieren, der Stierkampf, Hetzjageden, die Produktion von Stopfleber oder der Pelzhandel. Die Menschen die in diesen Bereichen tätig seien, sollten die Gelegenheit bekommen, ihre Kompetenzen in die Umsetzung dieser Maßnahmen einzubringen. Sie sollten einen Platz in einer gegenüber den Tieren gerechten Gesellschaft finden.
Abschaffung der Tierzucht braucht Zeit und neue Verbündete
Das Ende der Tierzucht und der Schlachtung ist für Pelluchon schwieriger. Die meisten BürgerInnen lehnen zwar die Intensivtierhaltung ab, aber mit einem völligen Verschwinden domestizierter Tierarten sind sie nicht einverstanden. Eine vollständige Abschaffung der Tierhaltung ist daher an verschiedene Voraussetzungen geknüpft. Die Lebensstile müssen sich ändern. Man braucht genügend Alternativen in den Bereichen Ernährung, Mode u.a. Und wer heute seinen Lebensunterhalt mit der Tierzucht und der Herstellung von tierischen Produkten verdient, braucht einen anderen Platz in der Gesellschaft.
Extensivierung der Tierhaltung ist sofort möglich
Mit dem Übergang zu einer extensiven Tierhaltung könne aber sofort begonnen werden. Alle Produkte aus einer intensiven Tierhaltung sollten boykottiert werden. Der Übergang der Tierzüchter auf andere Handlungsformen müsse wirtschaftlich gefördert werden. Dazu gehören auch protektionistische Maßnahmen, die helfen, dem Konkurrenzdruck durch Importe, standzuhalten.
Protektionistische Maßnahmen und Re-Regionalisierung helfen
Pelluchon fordert eine Regionalisierung der Produktion (kurze Wege), sinkende Gewinnmargen im Zwischenhandel, die Förderung von Umbaumaßnahmen und Finanzausgleiche für wegbrechende Gewinne. Sie bringt auch ein Mindestgehalt für auf Extensivierung setzenden Tierzüchter ins Gespräch. So lange noch geschlachtet werden müsse, sollten diejenigen, diese Aufgabe übernehmen, gut ausgebildet sein und psychologisch und fachlich begleitet werden. Niemand dürfe gezwungen sein, diese Arbeit über viele Jahre zu machen.
Ende der Tierzucht macht tiefgreifender Wandel erforderlich
Da sich solch tiefgreifenden Veränderungen von Produktionsweisen und Lebensstilen nicht per Gesetz verordnen lassen, müsse man sich aus solchen Verhältnissen „herausschleichen“. Ein solcher Transformationsprozess betreffe alle Lebensbereiche und erfordere die Mitarbeit und Unterstützung durch die Bereiche Wissenschaft, Kultur, Mode, Bildung. Anwälte, Richter und Polizisten müssten mehr über die Misshandlung von Tieren erfahren und die Möglichkeiten sie zu schützen. Der Schlüssel für die Veränderung des Loses der Tiere liegt für Pelluchon aber bei der Politik. Deshalb muss die Sache der Tiere politisiert werden (S. 109).
Kultur und Erziehung sind die Säulen der Gerechtigkeit
„Wann immer soziale und politische Fortschritte erzielt wurden, in der Französischen Revolution, in der Aufklärung, in der Dekolonialisierung, in der Emanzipationsbewegung der Frauen, waren Kultur und Erziehung die Hauptstützen dieser Entwicklungen. Sie sind die Säulen der Gerechtigkeit.“ (S 109). Deshalb hält Pelluchon es für besonders wichtig Kindern von klein auf den Reichtum tierischen Lebens erfahren zu lassen, damit sie die Sensibilität entwickeln, die ihnen Achtung vor den anderen Lebewesen und Mitgefühl vermitteln. Tierethik und Ethologie sollten ebenso unterrichtet werden, wie Geschichte oder Fremdsprachen. Vom Hort bis in die Hochschulen hinein, müsste thematisiert werden, dass die Sache der Tiere auch die Sache der Menschheit ist.
Die Sache der Tiere ist von historischer Bedeutung – Wir brauchen ein Zeitalter der Achtung vor dem Leben
Auf den letzten Seiten fasst die Philosophin noch einmal mit großer Dringlichkeit ihr Anliegen zusammen. Sie stellt fest, dass immer mehr Menschen verstehen, dass die Sache der Tiere von historischer Bedeutung ist. Auch wenn die Gegenkräfte und die Tyrannei der Gewohnheit stark sei und unser Wirtschaftssystem Milliarden von Tieren ein höllisches Leben und den Menschen die sie ausbeuten Arbeitsbedingungen aufzwingt, das schädlich für ihre Gesundheit und ihre Selbstachtung sind, gehöre die Zukunft jenen, die ihre Mitmenschen mahnen, sich mit den anderen Lebewesen zu versöhnen und vom Zeitalter der Trostlosigkeit ins Zeitalter der Achtung vor dem Leben überzugehen.
Die Lösung der Tierfrage ermöglicht eine neue Phase der Zivilisation
Dieser Übergang ist für Pelluchon eine Revolution. Sie diktiere nicht die Unterwerfung einer Klasse unter eine andere, sondere wende sich gegen jegliche Ausbeutung. Es handele sich um eine grundlegende Änderung der Gesellschaft, um den Übergang in eine neue Phase der Zivilisation.
Animalisten aller Länder vereinigt Euch!
In Anlehnung an das marxistische Manifest ruft sie die Animalisten aller Länder auf, sich zu vereinigen, um die heutigen Lebensbedingungen der Tiere zu verbessern. Und sie fordert auch eine Vereinigung mit denen, die (noch) keine Animalisten sind.
Eine ganze Welt können wir gewinnen
Sie beendet ihr Manifest mit den Worten: „Kämpft gegen die Misshandlung der Tiere, setzt euch für die Liebe zu allen Lebewesen, menschlichen wie nichtmenschlichen, und für Gerechtigkeit ein. Die Sache der Tiere ist universell. Sie gehört allen. Indem wir den Tieren Gerechtigkeit widerfahren lassen, retten wir unsere Seele und sicher wir unsere Zukunft. Eine ganze Welt können wir dadurch gewinnen.“ (S 111).
Corine Pelluchon ist Professorin für Philosophie an der Universität Paris-Ost Marne-la-Vallée. Sie beschäftigt sich mit Moralphilosophie, Politischer Philosophie und Fragen der angewandten Ethik in den Bereichen Bio-, Umwelt- und Tierethik. 2020 erhielt sie für ihre philosophische Gegenwartsdiagnostik den Günther Anders-Preis für kritisches Denken.
Manifest für Tiere, ist im C.H. Beck Verlag erschienen, hat 111 Seiten und kostet 12 Euro, ISBN Nummer 978-3-406-75709-9